Vom Wiener Südbahnhof fährt man mit dem Zug gerade einmal 45 Minuten bis zu dem einzigartigen Flachsee im Burgenland. Etwa 40 Fahrräder im vollbesetzten Zug lassen erkennen, dass viele Wiener den See als Frühlings-Ausflugsziel schätzen. Und man lockt sie mit großformatigen Plakaten: Eine scharf angeschnittene Radfahrerin vor der Kulisse des Schilf bewachsenen See-Ufers fragt platonisch: „Kennen Sie das Gefühl?“ Die Tourismuswerbung des Bundeslandes im Süden Wiens hofiert die Radfahrer als umwelt-, genuss- und gesundheitsbewusste Zielgruppe. X Radwege wurden ausgebaut und eine kostenfreie Karte weist den Weg. Wie wertvoll die Karte ist wird deutlich, wenn man sich ohne sie auf Entdeckungsfahrt begibt. Viermal fragen, vier Antwortvarianten mit vier verschiedenen Richtungsangaben: „Auto-mobil“ denkende, Abkürzungen anratende, ortsunkundig „glaubende“ und Distanz schlecht bewertende Einheimische. Die Beschilderung weist den Weg sporadisch und undetailliert – die Qualität der Wegweiser steht weit hinter der der Wege zurück.
Wenn im Frühjahr die Zugvögel zurückkehren zu ihren Brutplätzen in Europa, verwandelt sich die beschauliche Stille des Sees in einen Tummelplatz von Federvieh. Im Schilfgürtel und den Lacken am Rande des Gewässers ziehen Dutzende, teils sehr seltene und bedrohte, Arten ihre Jungen groß. Die Vielfalt von Sprachen und Autonummern verrät, dass Vogelbegeisterte aus Nah und Fern hier jetzt gerne mit ihren Ferngläsern auf die Pirsch gehen. Dennoch machen sie – zumindest am Wochenende – nur einen Bruchteil der Besucher aus. In den Ausflugslokalen liegt die Aufmerksamkeit der Gäste eher auf den regionalen Wein- und Essens-Spezialitäten als auf den Grauganskolonien jenseits des Zaunes zum Nationalpark.
Während manche Gastwirte das Kommen und Gehen von Touristen aktiv durch Werbetafeln schon auf den Anfahrtswegen forcieren, verzichten andere Betriebe bewusst auf laute Lockrufe. „Wir wollen gar nicht von allen See-Besuchern gefunden werden“, erklärt ein Wirt etwas abseits der Hauptroute, die um den See führt. Seine Gäste kommen, weil sie den kleinen Schankgarten mit dem liebevoll gestalteten Kinderspielplatz den großen Bierbank-Kolonien vorziehen. Immer wieder kommen sie – und sie erzählen ihren Freunden und Bekannten vom Gastgarten mit den hausgemachten Spezialitäten aus der Familienküche und dem hauseigenen Weingarten. Als er die Kondensmilchpackung eilig vom Unterteller vor den starken Windböen rettet, erklärt mir der Wirt entschuldigend, dass er letzte Woche sechs Säcke voll Plastik- und Glasmüll aus den Hecken um sein Haus gelesen habe. „Das Umweltbewusstsein der meisten Touristen ist sehr gering“, beklagt er. Daran habe auch die Auszeichnung des sensiblen Ökosystems zum Nationalpark wenig geändert. Dass nach XY Jahren der Schutzgedanke endlich in der Bevölkerung einigermaßen verankert sei, sei nur ein erster Schritt. „Gerade die Ausflügler müssten besser geschult werden.“
Folgt man dem Radweg weiter nach Norden weg von der Haupt-Schutzzone des Nationalparks prägen zunehmend Ferienhäuser, Eigenheime und Campingplätze mit Seezugang das Landschaftsbild. Die großen Parkplätze vor den Strandbädern sind gut gefüllt mit den Autos sonnenhungriger Badegäste. Kite-Surfer, Segelboote, und Lenkdrachen teilen sich den Wind mit Möwen und Greifvögeln vor der Kulisse der Windkrafträder an den Hängen der Hügel am Horizont. Der See erfreut sich großer Beliebtheit und wohin die Entwicklung des zum Welterbe zählenden Naturjuwels Neusiedler See/ geht ist ungewiss. Das verschlafene Neusiedl, das mir von meinem ersten Österreich-Urlaub mit Oma und Opa vor fast dreißig Jahren in Erinnerung war, hat sich ein eine quirlige Kleinstadt verwandelt. Kurz hinter dem See-Radweg weisen große Schilder auf den städtischen Bauhof hin. Zum Bahnhof muss man sich mühsam durchfragen.
Weitere Fotos vom Neusiedler See
web: Nationalpark Neusiedlersee-Seewinkel — Ferienregion Neusiedler See/Burgenland — Welterbe-Region Ferto&Neusiedlersee