…und draußen stirbt die Reindorfgasse

Am oberen Ende der Gasse, dort nur ein paar Treppenstufen entfernt von der Mariahilfer Straße – der äußeren – brummt unverdrossen Das Cafe Plauscherl in der Reindorfgasse in 1150 Wienein Laster. Der Fahrer raucht genüsslich eine Zigarette. Ebenso gemütlich dreht sich auf der Ladefläche der Asphaltmischer. Sein Inhalt wird von Hand aus Eimern auf den Fahrweg geschüttet: Eine langsame traditionelle Arbeitsweise. Ganz Reindorfgasse: Langsam und mit Tradition.

Direkt gegenüber kündigt ein neonbuntes Schild den Total-Abverkauf eines Modegeschäfts an. Die Mode im Schaufenster war modern als die Reindorfgasse noch prominent war. Heute schlendert man an leeren Schaufenstern vorbei. Das Cafe Plauscherl trotzt mit stoischer Ruhe und den wenigen Stammgästen der Rückzugswut. Kaffee und Imbiss – auch Bier gezapft, der Piff zum Frühstück. Aus dem Radio singt Rainhard Fendrich vom Glück, das ihn verlassen hat. Draußen kämpft die Reindorfgasse ums Überleben.

Eine niedliche Pfarrkirche steht etwas zurückgezogen auf dem mediterran anmutenden Platz mit den Bäumen, Bänken und den betagten Bewohnern, der die Gasse in der Mitte teilt. An die Ecke zur Oelweingasse schmiegt sich der schöne Schanigarten des legendären Gasthaus Quell – auch dort wenig Neues (der letzte Newseintrag auf der Webseite ist acht Monate alt). Ist Dr. Ostbahn in den Ruhestand getreten? Das Siechtum zieht sich ohne erkennbares Muster durch die gesamte – wahrscheinlich ehemals quirlige – Einkaufsstrasse. Leermit mediterranem Charme aber weniger wuseligstehende Geschäfte als Metastasen eines nicht lokalisierbaren Geschwürs.

Lebenserhaltend wirken noch ein paar Geschäfte und Gastronomiebetriebe. Die Firma Urban Tools hat sich  auf die andere Straßenseite vergrößert. Eine Dependance mit integrierter Küche und Essbereich repräsentiert stolz die gelebte Work-Life-Balance der Kreativen. Einige Galerien haben eröffnet in leerstehenden Geschäftsläden. Noch zu wenige Pflaster, als dass man von einem Heilverband reden möchte. In ihrer Betonung des Außergewöhnlichen stellen sie einen angenehmen Gegenpol zur engstirnigen Plakatwerbung der FPÖ dar, die am unteren Ende der Gasse ein Parteibüro innehat.

Kulinarische Berührungspunkte: Die auf Spanferkel und -lämmer spezialisierte Fleischerei – deren Verkäuferin mir auch nach Dutzenden liebevollen Ermahnungen noch immer die Leberkäs-Semmel zum Direktverzehr in Folie einpackt und die Pizzeria Mafiosi. Eingekleidet in eine dunkle Holzvertäfelung, wird man den Eindruck nicht los, eine Räuberhöhle zu betreten. Viel gemütlicher ist es im Innenhof, wo bei Preisen von zwei Euro pro Halbliter-Flasche das Feierabendbier vielen Studenten, Arbeitstätigen – und solchen, die es einmal waren – schmeckt.

agricolus_reindorfgasse_05Nur blitzlichtartig scheint manchmal auch die versteckte Seite der Reindorfgasse geheimnisvoll auf: Routiniert diagnostiziert die Rettungs-Assistentin die Droge, die den jungen Mann im Hauseingang hat zusammenbrechen lassen. Eine unbekannte Welt auch die Beisln mit den austauschbaren Namen, in denen in Lederjacken gekleidete Männer sich vor dem Satelliten-TV räkeln, wenn sie nicht gerade in fremder Sprache geschäftig mit ihren Mobiltelefonen vor dem Gasthaus auf und ab laufen.

Die Reindorfgasse ist eigentlich genau so, wie eine Wiener Gasse – Straßen sind selten im eng bebauten Alt-Wien – sein soll. Leicht verträumt, angenehm gemächlich, einladen gemütlich und etwas verstaubt. Vielleicht ist es diese Patina alter Zeiten, die heute von der kleinen, einst großen Gasse ablenkt. Es bleibt zu hoffen, dass der Fahrradweg, den die Bauarbeiter am oberen Ende gerade errichten, Menschen in die Gasse zieht, die den sanften Wandel zur Kreativ-Meile mit Traditionsbestand so sehr zu schätzen wissen wie ich.

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