England – Der Süden

Das Pfund steht günstig wie nie, höchste Zeit die britische Insel einmal jenseits der englischen Haupstadt zu erkunden.
Wir sind zu Gast bei einer jungen Dame, die uns im Frühjahr in Wien beehrt hat. Dandylion – Pusteblume, so ihr klingender Name, ist eine Seele von Mensch. Sie redet gerne über die großenThemen; über Dinge, die viel mit der Zukunft, mit einer gerechten Gesellschaft, mit einer Welt ohne Grenzen zu tun haben. Dinge, die man (leider) selten mit Teens diskutiert – geschweige denn auf einem so souveränen Niveau. Man merkt ihr an, dass sie als Jugendvertreterin auf vielen internationalen Konferenzen die englische Delegation vertreten hat. Mit ihr gemeinsam fahren wir mit dem Mietwagen die Grafschaften Hampshire, Dorset und Sommerset ab und entdecken allerhand Spannendes am Wegesrand.

Ein wenig exzentrisch – oder: Vom gepflegten Landleben

Exzentrisch seien die Engländer, so sagt man. Nach einem langem Fußmarsch auf der Suche nach einem Biobauernhof – wir wollen das Chilifest besuchen – stranden wir ziemlich ausgepowert auf einem Landgut. Der Hausherr empfängt uns verwundert, eine Wandergruppe inkl. zwei Kleinkindern ist offenbar ein seltener Anblick. Zum Nachbarhof – unserem eigentlichen Ziel – seien es noch einige Meilen, zu Fuß kaum zu schaffen. „Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?“, lädt er uns in sein Haus ein. Der vermeintliche Altbau entpuppt sich als Jungspunt. Er habe es in Fachwerk-Technik mit frischem Holz bauen lassen und durch das Verziehen des Holzes habe sich ein antiker Touch quasi von selbst ergeben. Sein Stolz sei aber das Nebengebäude. Was von außen wie eine Scheune aussieht, ist in Wirklichkeit ein Konzertsaal mit Bühne und Rangbestuhlung. Wir staunen nicht schlecht. „Hier auf dem Land gibt es nur ein eingeschränktes Kulturangebot, da muss man selbst aktiv werden.“, verkündet unser Gastgeber. Seine Kinder seien Musiker und so organisiere die von ihm ins Leben gerufene Gesellschaft für klassische Musik regelmäßig exklusive Konzerte mit hochrangigen Virtuosen.
Als wir im Landrover den Nachbarhof erreichen, ist das Chilifest schon vorüber. Unseren Gastgeber scheint das fast zu freuen. Er zeigt uns als Alternativprogramm sein bescheidenes Anwesen. Felder soweit das Auge reicht, Weiden für hunderte von Kühen, ein eigener Mähdrescher, Obstbäume, Vogelreservate – eben die Basisausstattung für ein sehr gepflegtes Landleben.

Extrem links – Unterwegs auf Englands Straßen

Das Fahren auf der „falschen“ Straßenseite bedarf der Gewöhnung. Zum stressfreien Üben seien dem rechtsgepolten Kontinent-Bewohner weder die Londoner Innenstadt noch die schmalen Landstraßen von Hampshire empfohlen. Zweimal bricht das Gewohnheitstier im Gegenverkehr durch: Instinktiv das Lenkrad verrissen und PENG: Reifen kaputt. Ein Ersatzrad zählt nicht zur Grundausstattung im Kofferraum eines Mietwagens, für einen gewöhnlichen Platten würde das alternativ beigefügte Flickspray vermutlich ausreichen. Aber die 15 Zentimeter langen Cuts hätte ich höchstens mit Bauschaum abdichten können.
Kann man es den Kindern verdenken, wenn nach einem Tag geprägt von historischen Innenstädten, Kulturdenkmälern und grandiosen Landschaften die Fahrt mit dem Abschleppwagen die einzig nennenswerte Erinnerung ist?

Mystisches Südengland

Überhaupt: Was Kinder sich so alles denken. Der Riese von Cerne Abbas schmückt einen ganzen Hügel aus. Die Ausmaße sind beeindruckend. Während wir über die technische Leistung philosphieren kichert unser Nachwuchs: „Schau mal, was der für einen riesigen Penis hat.“
In Stonehenge schützt ein Zaun das Weltkulturerbe vor allzu aufdringlichen Besuchern. Wir umwandern das Steinmonument und rasten auf der Wiese unweit von zwei in tiefer Meditation versunkenen Chinesen. Als einer der beiden „aufwacht“, spreche ich ihn an, ob denn dies auch für Asiaten ein magischer Ort sei. „Ich hab nichts gespürt.“, sagt mein Gesprächspartner, „aber mein Kumpel sitzt nun schon seit ein paar Stunden hier und ist total entrückt.“ Vermutlich hat er die besseren Sensoren.
Der Zauber von Glastonbury hingegen scheint tatsächlich massentauglich. Die esoterische Literatur beschreibt den Ort als Schnittstelle mehrerer Ley-Linien. Es wird vermutet, dass das viel besungene Avalon hier verortet war. Und das scheint Grund genug, dass sich in der Innenstadt so ziemlich alles findet, was spirituell angehauchte Menschen zu benötigen brauchen: Geschäfte mit Hippie- und Gothic-Kleidung, Headshops und Geistheiler, New-Age-Seminarräume und Selbstfindungs-Workshops. Auch ein quasi buddhistisches Zentrum fehlt nicht. Quasi, weil es wie eine Mischung zwischen Zen-Garten, Hindutempel und Wallfahrtsort für die Muttergöttin erscheint. Wir erklimmen das berühmte Glastonbury Tor im strömenden Regen querfeldein durch die Schafweiden. Der Lohn für unsere pitschnasse Kleidung ist die relative Ungestörtheit – die Reisebus-Massen verdingen sich offenbar derweil beim Afternoon Tea in einer lokalen Konditorei -, die Strafe sind 100 Meilen Autofahrt mit angelaufenen Scheiben.

Vier Wände aus Heimwerkerzubehör

Manchmal mutiere ich zum Trüffelschwein für ungewöhnliche Entdeckungen. So bei der Anfahrt in die oben erwähnte Stadt Glastonbury. Mich gelüstet nach einem Kaffee, ein Schild an einem Bauzaun weist den Weg zu einem Kiosk in einem ehemaligen Industriegebiet. Wir kommen ins Plaudern mit dem Besitzer und erfahren, dass wir inmitten eines Community-Projects stehen. Nach jahrelangem Leerstand und kostenintensivem Rückbau hat die Stadt die Segel gestrichen und die Nutzung der Industriebrache einer Bürgerbewegung zuerkannt. Seither wird gehämmert, gestrichen, verkabelt und gebohrt was das Zeug hält. Das Schmuckstück des Projekts steht zwischen den riesigen Hallen und sieht aus wie eine Bauhütte mit Satteldach. Das Besondere: Das ganze Haus hat gerade einmal 300 Pfund gekostet, wie uns der Kioskbesitzer erklärt. Wie bitte? Das Prinzip ist einfach: Ein Heimwerker-Markt verteilt jährlich an alle Haushalte einen sehr kompakten Katalog. Nach einem Aufruf an die lokale Bevölkerung, die durchaus an Backsteine erinnernden Papierklötze nicht dem Altpapier zu überantworten, sondern sie stattdessen abzugeben, war genug Rohmaterial da für einen Hausbau. Der Dachstuhl wurde von einer lokalen Zimmerei gestiftet, die Spanplatten für den Bodenbelag stammen ebenfalls aus Spenden. „Wir wollen zeigen, was man alles aus Abfall herstellen kann, wenn man nur ein wenig Kreativität und guten Willen dazugibt.“, erklärt uns der Bauleiter. Wir sind beeindruckt: Urban Mining auf höchstem Niveau.

Indien sind seine Dörfer

38,8 Grad in Mumbai. Nicht Außentemperatur, sondern Fieber. Die Klimaanlagen im Flugzeug und im Transitbereich in Bahrain waren verkleidete Froster.
Im Ankunftsbereich steht ein Mann mit Schild: Mr. Marcus, Germany. Die digitale Gastfreundschaft funktioniert, es ist Lauren. Er fährt mich in sein Appartment nach Colaba, dort wo die Halbinsel Mumbai nur noch einige hundert Meter breit ist. Er zeigt mir Bad, Bett und Küche, gibt mir einen Schlüssel und verschwindet. Ausschlafen, die beste Medizin.
Als ich aufwache, dämmert es bereits. Ich bin immer noch gerädert, der Hunger treibt mich vor die Tür. Von der Ecke gegenüber riecht es nach Pizza. Ein kultureller Affront sicherlich, aber die schnellste Variante. Die Pizza kostet 350 Rupien. Dafür muss mancher Inder ein paar Tage arbeiten. Die 15 Roller, die als Lieferfahrzeuge vor der Tür stehen, sagen mir, dass dies für viele andere in Mumbai unerheblich zu sein scheint …
Als ich morgens aufwache, steht Lauren schon angezogen neben seinem Bett. Wenn ich mit ihm frühstücken will, soll ich mich beeilen. Nach dem europäischen Frühstück, zu dem er mich einlädt, erfahre ich den Grund für die Eile: Es ist Sonntag. Er fragt, ob ich ihn zur Messe begleiten will. Lauren ist Protestant. Es ist lange her, dass ich einen Gottesdienst besucht habe. Einen protestantischen sowieso, geschweige denn in Englisch. Nach der Messe passt mich der Priester ab. Er hatte mir Messwein über die Hose geschüttet und will sich dafür entschuldigen. Der spirituelle Tageseinstieg ist gemacht.
Ich frage Lauren, ob er mir die Towers of Silence zeigt. Die Parsen bestatten ihre Toten, indem sie sie auf Türmen den Geiern zum Fraß vorlegen. Es ist nicht viel zu sehen, hohe Zäune und Hecken schützen vor neugierigen Blicken.
Auch meinem zweiten Besichtigungswunsch wird entsprochen – das Rotlichtviertel. Prostitution ist in Indien verboten, dennoch ist dieser Bezirk im Reiseführer erwähnt. An der
Ecke zu einem maroden Viertel hält Lauren an. Die Damen tragen bunte Kleider und stehen beieinander wie Hausfrauen, die nach dem Marktbesuch ein Schwätzchen halten. Einzig ihr massiertes Auftreten und viel sagende Blicke erklären die Besonderheit des Ortes …
Die Universität, in der ich mit Professor Munshi verabredet bin, hat zwei Standorte. Einer in Colaba, der andere in Santa Cruz. Das bedeutet 45 Minuten Bummelzug.
Was immer ich über die Vorortzüge von Mumbai gehört hatte, es ist wahr. Es zu fühlen, ist eine andere Qualität des Erlebens. Als der Zug abfährt, bin ich fast alleine im Abteil. Drei Stationen später sind die Stehplätze besetzt. So glaube ich. An jeder Station steigen neue Menschen ein. Wer aussteigt, und ob dies überhaupt jemand tut, ist meinem Blick entzogen. Ich fühle aber, dass der Zug immer voller wird. Drei Stationen vor Santa Cruz rät mir ein Mitfahrer, mich gen Ausgang zu bewegen. Die drei Meter sind weit. Es ist ein eigenartiger Prozess, vergleichbar einer Hand die in einer Schüssel mit Reis rührt. Die Körner tauschen den Platz, und was vorher in der Mitte war, ist irgendwann am Rand. Mit einem heftigen Ruck und einem Sprung in die Menge, die auf die Zugtür zustürmt, lande ich am Bahnsteig. Geschafft, in allerlei Hinsicht.
Der Universitätscampus scheint noch im Bau, ob noch gebaut oder schon renoviert wird, verraten die halbfertigen Häuser nicht. Am nächsten Morgen befreit mich ein Zug von den Wirren der Großstadt …
Es ist schon dunkel, als ich in Mananthavady eintreffe. Es ist eine Stadt, nach indischen Maßstab vermutlich eine Kleinstadt.
Die Zeit, bis mich Sumesh am Busbahnhof einsammelt, überbrücke ich mit Tee trinken. Ich komme ins wortlose Gespräch mit einem anderen Fahrgast, der auch wartet. Er hat Frau und Kinder. Ich zeige ihm Bilder von meiner Frau und meiner Tochter. Die Fotos, kaum abgelegt, verlassen den Tisch und kreisen einmal durch die
Teestube. Jeder will sie sehen. Ein deutscher Bahnhof bei Schnee, die Fußgängerzone in Wien und Fathermother meine Oma, väterlicherseits wohlgemerkt, so genau muss man schon sein.
Das Beste an Mananthavady ist vermutlich das Kaffeehaus, das die Indian Coffee Worker Cooperation Limited betreibt. Wayanad, der Distrikt in dem die Stadt liegt, ist umgeben von Kaffeeplantagen. Frischer bekommt man ihn wohl kaum. Und was in Darjeeling beim Tee ein Sakrileg ist, ist hier Alltag – der Kaffee wird mit Milch und gezuckert serviert.
Nach fünf Tagen in der Stadt bin ich einigermaßen akklimatisiert. Das mal zögernde, mal eilige Tanzen von einer Straßenseite zur anderen, durch den immer hupenden fließenden Verkehr. Die Restaurants, deren Aussehen im umgekehrten Verhältnis zur Qualität des Essens steht – je einfacher, desto besser.
Die freundlichen Rufe und Grüße. Am ersten Tag skeptische Blicke, am zweiten ein Gerede, hinterrücks: foreigner. Am dritten hatte sich herumgesprochen, dass ich aus »Jarmeny« komme und am vierten wurde ich mancherorts bereits mit Namen gegrüßt.
»Indien sind seine Dörfer«, hatte Ghandi gesagt. Spätestens am fünften Tag in der kleinen Stadt, am 165. Geburtstag des Nationalidols, wusste ich in etwa, was er meint.