Unterhaltung wie auf Schienen
Zugfahren ist eine fantastische Art, entspannt die Landschaft an sich vorüberziehen zu lassen und seinen Gedanken nachzuhängen. Mittlerweile wird man zumindest in Deutschland ab und an von einem freundlichen bahnuniformierten Wesen gefragt, ob man ein Heiß- oder Kaltgetränk zu sich nehmen möchte und in manchen Zügen steht Lektüre in Form von unternehmenseigenen Magazinen zur Verfügung. Integrierte Absatzkanäle und Public Relations. Aber so kommt zumindest keine Langeweile auf. Zum wirklichen Entertainment ist es allerdings noch ein weiter Weg. Indien ist da einige Schritte voraus. Die Züge sind praktisch offen für Händler jedweder Art – frei ist der Markt: Hier darf man auf Bahnreisen eine derart intensive Unterhaltung genießen, dass es schon an der Schmerzgrenze kratzt.
Als wir am im April mit dem Zug von Barpeta Road nach New Jalpaiguri unterwegs waren, haben wir uns an einer unsortierten Liste der Dinge versucht, die von fliegenden Händlern angeboten wurden. Was hier zu lesen ist, spiegelt das Angebot zwischen den zwei Stationen während einer Fahrtzeit von 42 Minuten wider.
Reisetaschen, Rasierapparate, Betelnuss, Zigaretten (trotz Rauchverbot im Zug), Musik-Keyboards, Taschenlampen, Wasserfarbensets, Scheren, Plastikteller, Küchenmesser, Zahnbürsten, Tiger Balm (und zahlreiche Plagiate desselben), Kaffee, Tee (verpackt und frisch gebrüht in zahlreichen Varianten: Zitronentee, Milchtee, Schwarzer Tee), Omelett auf Toast, Wasser (1 und 2 Liter-Flaschen), Bett-Tücher, Kekse, Nagelclipser, Mehrfachstecker, Uhren, Ferngläser, Miniatur-Vogelkäfige mit Elektro-Gezwitscher, Bananen, Gurken, Zauberwürfel, Lesebrillen, gewürzte Kichererbsen mit Senföl, Barbie-Puppen, Mundharmonikas, Matchbox-Autos (nicht das Original), CDs, DVDs, Videospiele, Puri Bhaji (Fladenbrot mit Kartoffelgemüse), Luftpumpen, Anti-Rutschmatten, Parfüms, Softdrinks, gesüßter Joghurt, Bauchweg-Trainer, Samosas (gefüllte Teigtaschen), Hand-Nähmaschinen, Zeitungen (in Englisch und in lokalen Sprachen), Make-up, Lippenstift, Haarbürsten, Badelatschen und Damenschuhe, Zauberzubehör, elektrische Feuerzeuge, Lufterfrischer, Deodorant, Bücher, Shampoo, Popcorn, Thermoskannen, Gamchas (sehr dünne Baumwollhandtücher), Unterwäsche, aufblasbare Kissen, Frottee-Handtücher, Kürbisse, Papayas, Kartoffelchips (eingefolte Markenprodukte und lokale frisch hergestellte), Tischdecken, Armreifen, Zier-Goldketten, Ketten und Schlösser, Kokosnuss-Snacks, Erdnüsse, Musik-Kassetten, Handtaschen mit ortstypischer Stickerei, Handy-Ladekabel, Massbänder, Regenschirme, Stifte, Taschenrechner, gekochte Eier, Batterien, Moskito-Netze für Kinder, tragbare Kassettenabspieler, Tisch-Telefone, T-Shirts, Regenjacken, Kartoffelschäler, Muri (gewürzte Reisflocken), Plastik-Dinosaurier, ferngesteuerte Spielzeug-Elefanten und LED-Lampen.
Zusätzlich boten Schuh-Polierer, Musiker, Zauberkünstler und Masseure für Kopf- und Körpermassage ihre Dienste feil. Bodenputzer, blinde und amputierte Bettler sowie Hijras (vereinfacht gesagt, das dritte Geschlecht in Indien) als Dienstleister zu bezeichnen, könnte uns dem Lächerlichmachen oder der Verkennung der sozialen Hintergründe verdächtig machen. Wertneutral sei daher festgestellt – sie fehlen auf kaum einer Zugfahrt.
Kaum hatten unsere Mitreisenden das Spiel durchschaut, wurde aus unserer Privatunterhaltung recht schnell ein Gesellschaftsspiel. Sobald ein Händler das Abteil betreten hatte, flogen uns die Namen neu erschienenener Artikel nur so um die Ohren. Die Landschaft kam bei der Fahrt sicher zu kurz. Aber eine nette Unterhaltung mit den Mitreisenden trotz Sprachbarriere will ja auch nicht verachtet sein.
Nach Weglegen des Notizbuches, einen Becher Kaffee in der Hand, tauchten dann doch Fragen ob des Warenangebots auf. Seife und Klopapier – zumindest eines von beiden ist auf längeren Zugfahrten immer hilfreich – konnten wir nicht sichten. Ein klares Versagen des Marktes – Nachfrage ja, Angebot nein. Gutgelaunt haben wir derartige Gedanken weitergesponnen: Wäre nicht die Leerlaufzeit während der Zugfahrt durch das wirtschaftlich aufstrebende Indien eine phantastische Absatzplattform für Kreditverträge, Versicherungen oder Urlaubsreisen? Vielleicht hört man ja in Zukunft Reisende folgendermaßen die Händler zurechtweisen: „Lassen Sie mich doch mal mit Ihren Zeitungen in Ruhe. Sehen Sie denn nicht, dass ich gerade eine Eigentumswohnung kaufe?“