Stadt, Land, Fluss – Kalkutta und die Sunderbans

Stadt, Land, Fluss – Kalkutta und die Sunderbans

Pilger Kalkutta
Zwei Sadhus - Männer, die ihr Leben dem spirituellen Dienst widmen -mit orangefarbenen Kopftüchern und Bemalung auf der Stirn sitzen auf der Straße vor dem Kali Temple in Kalkuttas Stadtteil Kalighat.

Leicht verspätet zum Karneval ein Gruß nach Köln. Die quirlige Rheinmetropole ist nicht eben bekannt als Raum der Stille und Einsamkeit. Im Vergleich mit Kalkutta ist sie – mal abgesehen von der Karnevalszeit – ein Naherholungsgebiet. Die Bevölkerungsdichte der indischen Mega-City ist zehnmal höher als die der Stadt am Rhein. Diese Konzentration an Menschen hat ausgesprochen angenehme Auswirkungen. Es gibt viel Kultur, viel zu beobachten, viel zu erleben.

In der College-Street umranden Buchstände einen Park stattlichen Ausmaßes. Die Stände sind klein und die Bücher sind gestapelt vom Verkaufstisch bis unter das Ladendach. Es gibt Spezialstände für allerhand Fachrichtungen und was der eine nicht anbieten kann das hat vielleicht ein anderer. So wandert man von Auslage zu Auslage, die Frage wie sich die vielen Stände nebeneinander seit Jahrzehnten behaupten immer im Hinterkopf. Zum Nachsinnieren bietet sich ein Besuch im Kaffeehaus der indischen Kaffeearbeiter-Gewerkschaft an. Dort sind große Gedanken eine feste Einrichtung. Es wird geraucht, Kaffee wird geschlürft und Häppchen geknabbert – die bengalische Intelligenz, vor allem aber Studenten, geben sich hier die Klinke in die Hand. Im männlich geprägten Philosophen-Ambietente springen die wenigen Frauen direkt ins Auge.

Daheim auf dem Gehsteig in Kolkata
Eine Bleibe ohne Dach - der Hausstand einer Familie auf dem Gehsteig einer Strasse in Kalkuttas Süden

In 51 Teile wurde die Göttin Kali dereinst zerschmettert und eine ihrer Zehen ist im Süden der heutigen Stadt gelandet. Ein Tempel ihr zu Ehren ist Mittelpunkt des Stadtteils Kalighat. Zu Hunderten strömen täglich ihre Anhänger die kleine Straße entlang. Ausländer werden bereits kurz nach der Metrostation von eher scheinheiligen Fremdenführern umlagert, die aufdringlich ihre Unterstützung beim Tempelbesuch anbieten. Vor dem Tempel liegt ein Teppich von Bettlern beiderlei Geschlechts und jedweden Alters. Soziale Mildtätigkeit und geistige Erhellung scheinen ein untrennbares Paar – direkt neben dem Tempel befindet sich eine Zweigstelle der Mission, die von Mutter Theresa gegründet wurde. Etwas abseits vor einem Hauseingang kitzelt eine Mutter ihren Säugling, sodass dieser vor Freude juchzt. Momente des Glücks in einem Zuhause ohne Dach.

Die negativen Seiten kann Kalkutta nur schwer vor seinen Besuchern verstecken. Viel Müll, viel Lärm, viel Gedränge auf dem Bürgersteig, die Stadt ist vor allem eines: Viel – von allem. Richtig bewusst wird einem dies, wenn man die Stadt Richtung Süden, gen Meer, verlässt.

Die Landschaft wird weitläufiger, die Häuser kleiner. Auch hier leben die Menschen in den wenigen Dörfern und Kleinstädten dicht gedrängt und das Auto kann sich nur im Schritt-Tempo durch die Massen kämpfen. Aber die Ansiedlungen reihen sich nicht nahtlos aneinander wie in Kalkutta. Reisfelder, Shrimp-Farmen und Fabriken prägen das Gebiet. Die Sumpfgebiete, die heute in und unmittelbar um die Stadt herum mit großem Aufwand zu wertvollem Bauland für Wohnprojekte trockengelegt werden, sind hier Lebensgrundlage. Der ausgegrabene Schlamm wird zu Backsteinen verarbeitet, die entstandenen Löcher geflutet und mit Krabben-Laich bestückt.

Shrimp Laich abfangen in den Sunderbans
Eine Frau schleppt sich durch den Fluss, um mit einem engmaschigen Netz den Laich wilder Krabben aus dem Wasser zu fischen. Eine gefährliche, mühsame und umweltschädliche Angelegenheit, aber oft ein Einkommen ohne Alternativen.
Willkommen im Sunderban Nationalpark
Eingang zum Nationalpark Sunderbans

In Sonakhali endet die Fahrt an einem Bootsanleger. Die Sunderbans sind eine Inselwelt, Autos sind hier selten. Auf dem Weg flußabwärts kann man die Rohstoffproduktion der Krabbenfarmen beobachten. Frauen waten knietief im Wasser und ziehen feine Netze hinter sich her. Ein ebenso beschwerlicher wie gefährlicher Lebensunterhalt, Hai- und Krokodilattacken sind keine Seltenheit. Im Nationalpark Sunderbans sind die Krokodile eine der Hauptsehenswürdigkeiten. Nach deren Sichtung ist der Anblick von Rehen und Wildschweinen eine Attraktion zweiter Klasse. Der Tiger wird das anders sehen, stellen diese doch seine wichtigste Nahrungsquelle dar. Sein Revier sind die undurchdringlichen Mangrovenwälder – ein Revier das keines ist, weil mit jeder Flut seine Markierugen weggewaschen werden. Der König von Bengalen ist ein rastloser Wanderer und man trifft ihn nur selten, obwohl kein anderer Nationalpark so viele Exemplare verzeichnet. Verloren in der Ruhe und Weite der menschenfeindlichen Welt der Sunderbans verblasst langsam die Anspannung des Großstadtbesuches.

Sport Sunderbans Indien
Während der Mela, dem großen Fest, messen Männer wie Frauen ihre Kräfte im sportlichen Wettkampf.

Unterhaltung bietet die alljährliche Mela. Auf dem Dorfplatz versammeln sich am Abend die Bewohner der nahegelegenen Dörfer, um Tanzaufführungen und Gesangsdarbietungen zu bestaunen, die von Schulkindern und engagierten Volkskünstlern auf die Bühne gebracht werden. Dem Abendprogramm geht während des Tages ein Sport- Spielprogramm voraus. Männer in Lendenschurz treten im Wettstreit gegeneinander an, die Regeln des Spieles erinnern an das englische Rugby allerdings ohne Ball. Die Frauen messen sich in einer Mischung aus Rennen und Geschicklichkeit, es gilt auf halber Strecke einen Faden durch ein Nadelöhr zu bringen. Die Jugendlichen üben sich in Weitsprung und Kugelstoßen.

Das Leben scheint fröhlich, und wenn auch einfach, so bestimmt nicht leicht. Langsam fast verschämt scheint die Gegend am wirtschaftlichen Aufschwung Indiens teilhaben zu dürfen. Die Deiche werden befestigt und die schmalen mit Backsteinen gepflasterten Straßen werden verbreitert. Einem Anachronismus gleich durchschneidet ein Motorrad die Beschaulichkeit des ländlichen Lebens. Vielleicht war es die Klima-Debatte, die dem riesigen Flußdelta zu mehr Aufmerksamkeit verholfen hat. Ganze Inseln seien verschwunden, so wurde berichtet. Aber auch von Landerweiterungen durch Aufforstungsprogramme ist zu hören. Die Sunderbans sind im Wandel. Wie anders die Welt sein kann wird einem spätestens bewusst, wenn man wieder die Straßen Kalkuttas betritt.

Die Bundeszentrale für Politische Bildung hat einen sehr feinen Artikel über Kalkutta veröffentlicht.

Indien sind seine Dörfer

Mumbai – Ein eindrucksvoller Start

38,8 Grad in Mumbai. Nicht Außentemperatur, sondern Fieber. Die Klimaanlagen im Flugzeug und im Transitbereich in Bahrain waren verkleidete Froster. Im Ankunftsbereich steht ein Mann mit Schild: Mr. Marcus, Germany. Die digitale Gastfreundschaft funktioniert, es ist Lauren. Er fährt mich in sein Appartment nach Colaba, dort wo die Halbinsel Mumbai nur noch einige hundert Meter breit ist. Er zeigt mir Bad, Bett und Küche, gibt mir einen Schlüssel und verschwindet. Ausschlafen, die beste Medizin.
Als ich aufwache, dämmert es bereits. Ich bin immer noch gerädert, der Hunger treibt mich vor die Tür. Von der Ecke gegenüber riecht es nach Pizza. Ein kultureller Affront sicherlich, aber die schnellste Variante. Die Pizza kostet 350 Rupien. Dafür muss mancher Inder ein paar Tage arbeiten. Die 15 Roller, die als Lieferfahrzeuge vor der Tür stehen, sagen mir, dass dies für viele andere in Mumbai unerheblich zu sein scheint …
Als ich morgens aufwache, steht Lauren schon angezogen neben seinem Bett. Wenn ich mit ihm frühstücken will, soll ich mich beeilen. Nach dem europäischen Frühstück, zu dem er mich einlädt, erfahre ich den Grund für die Eile: Es ist Sonntag. Er fragt, ob ich ihn zur Messe begleiten will. Lauren ist Protestant. Es ist lange her, dass ich einen Gottesdienst besucht habe. Einen protestantischen sowieso, geschweige denn in Englisch. Nach der Messe passt mich der Priester ab. Er hatte mir Messwein über die Hose geschüttet und will sich dafür entschuldigen. Der spirituelle Tageseinstieg ist gemacht.
Ich frage Lauren, ob er mir die Towers of Silence zeigt. Die Parsen bestatten ihre Toten, indem sie sie auf Türmen den Geiern zum Fraß vorlegen. Es ist nicht viel zu sehen, hohe Zäune und Hecken schützen vor neugierigen Blicken.
Auch meinem zweiten Besichtigungswunsch wird entsprochen – das Rotlichtviertel. Prostitution ist in Indien verboten, dennoch ist dieser Bezirk im Reiseführer erwähnt. An der Ecke zu einem maroden Viertel hält Lauren an. Die Damen tragen bunte Kleider und stehen beieinander wie Hausfrauen, die nach dem Marktbesuch ein Schwätzchen halten. Einzig ihr massiertes Auftreten und viel sagende Blicke erklären die Besonderheit des Ortes …

Eine Zugfahrt, die ist lustig

Die Universität, in der ich mit Professor Munshi verabredet bin, hat zwei Standorte. Einer in Colaba, der andere in Santa Cruz. Das bedeutet 45 Minuten Bummelzug. Was immer ich über die Vorortzüge von Mumbai gehört hatte, es ist wahr. Es zu fühlen, ist eine andere Qualität des Erlebens. Als der Zug abfährt, bin ich fast alleine im Abteil. Drei Stationen später sind die Stehplätze besetzt. So glaube ich. An jeder Station steigen neue Menschen ein. Wer aussteigt, und ob dies überhaupt jemand tut, ist meinem Blick entzogen. Ich fühle aber, dass der Zug immer voller wird. Drei Stationen vor Santa Cruz rät mir ein Mitfahrer, mich gen Ausgang zu bewegen. Die drei Meter sind weit. Es ist ein eigenartiger Prozess, vergleichbar einer Hand die in einer Schüssel mit Reis rührt. Die Körner tauschen den Platz, und was vorher in der Mitte war, ist irgendwann am Rand. Mit einem heftigen Ruck und einem Sprung in die Menge, die auf die Zugtür zustürmt, lande ich am Bahnsteig. Geschafft, in allerlei Hinsicht. Der Universitätscampus scheint noch im Bau, ob noch gebaut oder schon renoviert wird, verraten die halbfertigen Häuser nicht. Am nächsten Morgen befreit mich ein Zug von den Wirren der Großstadt …

Wayanad – das ländliche Indien

Es ist schon dunkel, als ich in Mananthavady eintreffe. Es ist eine Stadt, nach indischen Maßstab vermutlich eine Kleinstadt.
Die Zeit, bis mich Sumesh am Busbahnhof einsammelt, überbrücke ich mit Tee trinken. Ich komme ins wortlose Gespräch mit einem anderen Fahrgast, der auch wartet. Er hat Frau und Kinder. Ich zeige ihm Bilder von meiner Frau und meiner Tochter. Die Fotos, kaum abgelegt, verlassen den Tisch und kreisen einmal durch die Teestube. Jeder will sie sehen. Ein deutscher Bahnhof bei Schnee, die Fußgängerzone in Wien und Fathermother meine Oma, väterlicherseits wohlgemerkt, so genau muss man schon sein.
Das Beste an Mananthavady ist vermutlich das Kaffeehaus, das die Indian Coffee Worker Cooperation Limited betreibt. Wayanad, der Distrikt in dem die Stadt liegt, ist umgeben von Kaffeeplantagen. Frischer bekommt man ihn wohl kaum. Und was in Darjeeling beim Tee ein Sakrileg ist, ist hier Alltag – der Kaffee wird mit Milch und gezuckert serviert. Nach fünf Tagen in der Stadt bin ich einigermaßen akklimatisiert. Das mal zögernde, mal eilige Tanzen von einer Straßenseite zur anderen, durch den immer hupenden fließenden Verkehr. Die Restaurants, deren Aussehen im umgekehrten Verhältnis zur Qualität des Essens steht – je einfacher, desto besser. Die freundlichen Rufe und Grüße. Am ersten Tag skeptische Blicke, am zweiten ein Gerede, hinterrücks: foreigner. Am dritten hatte sich herumgesprochen, dass ich aus »Jarmeny« komme und am vierten wurde ich mancherorts bereits mit Namen gegrüßt.

»Indien sind seine Dörfer«, hatte Ghandi gesagt. Spätestens am fünften Tag in der kleinen Stadt, am 165. Geburtstag des Nationalidols, wusste ich in etwa, was er meint.